Entweder. Oder?

Vor die Wahl des Entweder Oder gestellt, haben wir uns für ein verunsichertes Oder? entschieden. Dieses Oder tragen wir in unseren Koffern umher und laden es dort ab, wo eine Einreise noch möglich, erlaubt, wünschenswert zu sein hat. Denn es ist unsichtbar, doch noch immer da, oder? Wir spüren es ungemütlich in uns, einer laestigen Fliege in der Nacht; dem Rauschen noch fern, aber unweigerlich nahender Stromschnellen gleich. Oder? Es gibt jedoch irgendwie kein zurück. Wir spüren das Insekt nicht auf, wir stoppen nicht hier und jetzt die Fahrt. Weiter. Immer weiter. Nur, dass uns immer wieder Stimmen ereilen, immerfort die Nachrichten aufschrecken. Wir können uns nur zusammenkauern und gegebenenfalls so tun, als könne es sinnvoll sein, das „Leben von vorher“ zurückzuverlangen. Einerseits verstaendlich. Anderseits: wir sollten doch laengst gemerkt haben, dass die Beschwerde- und Rückgabestelle schon seit Monaten nicht mehr besetzt ist. Oder?

Kaufe. Fliege. Urlaub.

Sinn und Zweck unseres Daseins: Kaufen. Fliegen. Urlaub. Schließlich drehen wir damit im und am Rad unseres Wohlstands. Kräftiges Treten ist nun mehr denn je erwünscht, denn nur so halten wir einen Zustand am Laufen, dessen Sinn und Zweck wir für völlig unbestreitbar und unstrittig halten. Hinfort muss es gehen und weit hinaus – wir wollen fliegen, verreisen, am liebsten nicht da, sondern ganz woanders sein. Einfach, weil es dazu gehört? Weil wir das so gelernt haben? Weil es in unserer DNA eingeschrieben ist? Weil es uns auszeichnet und wir nur soviel sind, wie wir besitzen? All das Erworbene lassen wir in Teilen zurück, um neu Erstandenes fern von unserem Heimsitz zu transportieren. Weil es uns erlaubt ist, wegzugehen – weil dies die Normalität ist, die wir zurücksehnen.

Leise. Es wird laut.

Es sangen die Vögel hinein in die Stille und die Lautlosigkeit klang dabei fremd in unseren Ohren. Bald, schon bald, wir ahnten es, würde die geräuschvolle Wut zurück an unserem Alltag branden. Kleine Stöße würden es erst sein, die zunehmend heftiger anschlagen würden und die erst zaghaft, dann intensiver die Klanglosigkeit unter sich begraben würden. Was würden wir nur wenige Wochen danach noch wissen von Adern, in denen das Pochen der Jetztzeit zur Ruhe gekommen war? Wie die Erinnerung an dieses zur Ruhe kommen, in dem das Bohren, Schlagen und der Vorwärtsdrang unhörbar wurden? Blieb die Hoffnung? Es blieb das gespannte Erstaunen darüber, dass wir in einem unbeherrschbaren Kollektivdrang nichts anderes konnten als zurück zu wollen. Dorthin, wo es laut. Dorthin, wo es Ungetüm. Dorthin, wo es uns unter Umständen nicht behagt. Blieb die Hoffnung? Nicht wir ändern – wir werden geändert. Zu hören ist jetzt der Applaus in den Eingängen von Hotels. Es treten auf: Reisende auf einer Insel, die aus einem Bus steigen.

Mut. Los.

Wir Menschen glauben gelegentlich, verstehen jedoch nicht – nicht immer. Wir glauben, es könne doch alles weiter diesen trägen und doch mitnichten richtigen Gang der Dinge weitergehen. Ohne zu verstehen, dass der enorme Widerspruch, den uns dieser Gang der Dinge auferlegt, nicht, oder zumindest nicht sinnvoll, weitergegangen werden kann. Der Vorahnung entsprechend, dass politisch bisweilen nicht mehr zu erreichen ist, ist die Bewegungskraft und -dynamik jener, die richtungsentscheidend sind, zögerlich. Die Lage ist vertrackt, niemand, der behaupten könne, Entscheidungen seien einfach zu treffen. Das sind sie nicht und die unzählige Menge an Abwägungen, die vorzunehmen sind, sind alles andere als überschaubar. Die große Linie, der große Wurf, der weite Blick sind jedoch nicht zu erkennen. Dabei hat die Situation doch die Schwächen und Missstände aufgedeckt – eine paradigmatische Änderung, die über symbolische Gesten hinauszugehen in der Lage gewesen wäre, ist denkbar und wünschenswert. Der Schockstarre entronnen, gelingt es nicht, einen phantasievollen Blick in ein alternative Möglichkeiten zu richten. Gerettet werden Symbole und Repräsentanten unseres vergangenen Wirtschaftens und Lebens – ein Blick, ein Ruf, der anderes verspricht, gelingt nicht. So bleibt wohl nur, die Fassaden und Taue wieder kunstvoll hochzurichten, in der Hoffnung, sie mögen den nächsten Gewalten erneut widerstehen. Oder gänzlich umfallen, damit neu und unverzagt neu errichtet werden kann. Mut. Los.

Jetzt neu: Normalität.

Wir strebten zurück. Alles an und um uns zerrte in die Richtung, aus der wir kamen. Doch, wohin wollten wir eigentlich genau? War dies wirklich der Ort, war das die Zeit, die uns so wünschenswert schien, dass wir uns sehnsuchtsvoll zurückwandten? Und überhaupt: warum eigentlich zurück, wenn wir doch auch voran schreiten konnten? Warum fiel es uns so unglaublich schwer, die Taue, die Last, die uns an unserer vermeintlich normalen Normalität hielt, zu durchtrennen? Was hatte sie uns noch groß zu bieten, diese Normalität? Etwa unsere sogenannte Art zu Leben, die sich nur dadurch aufrechterhalten ließ, dass wir ein beeindruckendes Ungleichgewicht in Kauf zu nehmen waren? Gefiel es uns wirklich so gut, hatten wir uns so gut in dieser Hitze eingerichtet, dass wir keinen anderen Alternativen mehr zugänglich waren? War dies wirklich die beste aller möglichen Welten, aus der wir uns nicht mehr vertrieben wissen wollten? Kann uns das womöglich wirklich reichen, sind wir nicht zu mehr in der Lage? Es könnte ja sein, dass es uns reicht, alles andere ja sonst überfordert – wir setzen uns erstmal, schauen heute Abend in den Bilderrahmen.

Aus den Ruinen

Wankend und fast blind von der Dunkelheit, aus der sie nun nach und nach wieder an die Oberfläche gelangen, richtete sich ihre Wut gegen jenes, was sich nicht ohne weiteres erklärte. In den Ruinen, deren Gänge einem Kaninchenbau glichen, hatte es sich herumgesprochen: „Hast Du schon gehört …?“ Die Geschichten verbreiteten sich rasend schnell und dort bis wohin das Licht kaum durchdrang, setzen sie sich in den Köpfen fest. Sie verfestigten und verhärteten sich, umso mehr als doch alle hier unten sagten und wußten, es müsse doch so sein. Schließlich sang es doch sogar der und jener und die müssten es doch wissen. Was also konnte falsch daran sein, zu beschuldigen, anzudeuten und mit dem Finger auf die typischen Verdächtigen zu zeigen? Wann, wenn nicht jetzt, war es wichtig denn je, zusammenzuhalten, zusammenzugehen gegen den gemeinsamen Feind? Doch waren nicht auch Zweifel angebracht? Darum ging es irgendwann schließlich gar nicht mehr. Es bahnte sich an die große Stunde.

Weiter. Immer weiter.

Und dann … Wir ließen los. Wir ließen die Vorsicht der Vorwochen Vorsicht und unnütz sein und machten es uns erneut bequem in unserer wohnlich eingerichteten Stube. Wonach es uns verlangte, war nach einer »neuen Normalität«, die allerdings nichts anderes wahr und auch sein sollte als das, dessen wir im Grunde zwar überdrüssig, wozu wir aber keine Alternative zu erkennen in der Lage waren. Es sollte alles so werden wie es schon immer gewesen und worin wir uns einbequemt hatten. Den Verlockungen der neuen alten Welt waren wir, einem Junkie gleich, hoffnungslos erlegen.

Geschäft machen.

Geld fließt wie Blut durch die Gefäße der Wirtschaft; durch die Adern eines Landes und transportiert bis in die allerkleinsten Verästelungen die Leben erhaltende Substanzen. Was aber, wenn der Zufluss behindert, die Gefäßböden zugesetzt oder aber die Lebenssäfte verdickt und nicht fließfähig sind? Was, wenn der Nachschub für das, woraus Blutplättchen, Leukozyten und sonstige wichtige Substanzen erzeugt werden fehlt und womöglich nicht generiert wird? Wenn die sonst freigängigen Fließkorridore voll des Schuttes; das Blut voll des Staubes ist – und das Leben gehalten, aber nicht die Wahrnehmung aufgehellt werden kann? Es greift das Notprogramm. Der gesellschaftliche Organismus schaltet um auf Alarm- und Sparmaßnahmen und die Ferne, die es doch noch bis vor Kurzem zu erfliegen galt, tritt zurück in die Zeit, lange bevor wir dachten, dies sei doch nichts anderes als gott- oder naturgegeben; dass uns dies, doch wahrlich zustünde. Wir hatten es uns doch erarbeitet, oder? Etwas Unsichtbares legt sich seit Wochen wie eine kalte Hand über unsere Gedanken, während uns die andere, knochig, in die immer gleiche Richtung weist. Was wir dort sehen, lässt das Blut in uns und damit spiegelbildlich das Wirtschaftselexir stocken. Es verlangt uns danach und alles in uns arbeitet mit Kraft und Verzweiflung auf das Geld zu, das uns trägt, führt und bisweilen verschlingt. Doch dieser Freund, der nie einer wahr, wendet sich ab von uns – in die Richtung, in die wir nicht schauen wollen. Die Beine ausgestreckt, die ferngesandten Versprechen und Bilder glaubend und aufsaugend, sagen wir mit zitternder Stimme immer wieder: wann wird es wieder so, wie es mal war. Es empfiehlt sich der Hand zu folgen, die geduldig auf ein unbeholfen errichtetes Holzschild lenkt, auf dem mit ungelenker Schrift geschrieben steht: nie wieder.

Zurück? Zurück.

Würde man irgendwann, in einigen Jahren, von der letzten großen Chance sprechen, die die Menschheit verpasst haben würde? Fürwahr: selbst denen, die zuvor weit und hoch hinaus flogen, warden die Flügel gestutzt – abheben war nicht mehr. Stand in unseren Augen wirklich die Sehnsucht und die Lust nach dem Vorher? Wollten wir zurück an den Punkt, von dem aus wir vor einigen Wochen aus unseren Umlaufbahnen geworfen worden? War uns danach gelegen „weiter wie bisher“? Vielleicht aber, vielleicht, wollten wir gar nicht?

Glauben. Nicht wissen.

Das Knarren und Peitschen der Seile und Taue ward leiser. Glich die Situation der von Anwohnern einer stark befahrenen Straße? Gut möglich, dass die vorbeifahrenden Fahrzeuge irgendwann nicht mehr zu hören sind. Sie sind aber unweigerlich noch da.

Neue Geister erhoben sich und flüsterten von Dingen, die gekleidet im Gewand der Vernunft, die Unordnung zu verstärken drohten. Geschah dies all nicht, weil ein größerer, geheimer Plan, von noch größeren und unbekannten Mächten im Hintergrund lauerte? Die menschliche Kreativität, das Denkvermögen ist in jede Richtung expansiv und treibt die wildesten Blüten. Woran mag es liegen, dass Ursache und Wirkung so beliebig über- und durcheinander geraten und Menschen Geister aus Flaschen lassen, die nicht nur verschlossen, sondern dauerhaft versenkt auf dem Grunde der Denkozeane gehört? Doch schon entweichen die Bilder und besetzen das Denken, belagern die Zeit, vergiften den Austausch. »Sapere Aude« – Fluch oder Segen?