Es begann so unscheinbar

Die Größenordungen dessen was sich zutrug, waren irgendwann nicht mehr nach bisher bekannten Maßstäben zu fassen. Jetzt, knapp eine Woche nachdem sich einer trägen und dunstigen Wolke gleich, die Situation über uns gelegt hatte, traten die Konturen dessen was passierte, was passieren würde, immer deutlicher in Erscheinung. Die unzähligen Taue, Leinen, Fäden und Schnüre in jeder nur erdenklichen Größe und Länge, die das bislang kunstvoll zusammengeschnürte Gebilde durchzogen, spannten sich unter der ungeheuren Last oder hingen, bereits durchtrennt, in wirrer Anordnung. Noch hielt das Gebilde der Last stand, doch das ungeheure Spannen, Krachen und Knirschen ließ nichts Gutes ahnen. Es schien jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis das Gebilde krachend in sich zusammenfallen würde. Unsere ameisengleiche Emsigkeit lässt uns eilig an neuen Halteriemen und Konstruktionen arbeiten. Doch ganz gleich, ob es sich um Sportveranstaltungen oder wirtschaftliche Maßnahmen handelt, schien sich die Wolke noch nicht gänzlich verzogen zu haben. Besah man es genau, wirkte es ganz so, als trüge die Wirrnis der Zusammenstürzenden Konstrukte dazu bei, dieser Wolke kleinste Staub- und Unsicherheitspartikel zuzuführen. Besah man es genau, betrug die Sicht eigentlich Null.  

Man sagt, Tiere spürten herannahende Tsunami-Wellen und Erdstöße und dass sie sich in höher gelegene Bereiche in Sicherheit bringen. Wir derweil machten es, Tiere sind wir ja, ähnlich und schlossen unsere Grenzen, statteten uns mit dem, was uns wichtig zu sein schien aus. Und durchtrennten notgedrungen ein weiteres Halteseil: Grenzschließung brachten den freien Fluß zum stehen und somit jäh Unsichtbares an die Oberfläche. Schlachthöfe, hieß es nun, und bäuerliche Betrieben würde der Zufluss von Niedriglöhnern entzogen. Hatte man sich überdies auf Pflegekräfte zu verlassen gedacht, die sich der Fürsorge alternder und älterer Menschen zuwenden würden, standen diese nun unter Umständen vor der Frage: Heimat oder Fremde? Die Fallhöhe unseres Wohlstandskomforts war schwindelerregend. Nur aber für den, der es sich darin bequem gemacht hatte – schon vorher Bedürftigen wurde in diesen Tagen auch die wesentlich kürzere zivilisatorische Liane gekappt. Menschen ohne Unterkunft, Drogenabhängige strandeten mit voller Wucht an der Brandung des Nichts. Und denen, die sich in Sanktionsanstalten oder Lagern für Geflüchtete befanden, ward ohne Vorwarnung die Aussichtslosigkeit der Situation gewahr. Die Wolke würde, einmal verzogen, nicht nur zerrissene Taue, auch Missstände zutage befördern. Ob uns langsam klar wurde, dass wir uns schon bald viel tiefer für Kartoffel und Schweinefilet würden bücken müssen?

Das Gespür für eine herannahende Katastrophe war stark ausgeprägt – obwohl wir bereits am Ende dieser zweiten Woche schon ungeduldig die Frage zu stellen begannen, wann wir zu unserem vorherigen Leben zurückkonnten. Was wir da nicht wissen konnten (aber unterbewußt ahnten) war: gar nicht. Was jetzt geschah, durchtrennte alle Taue, Leinen, Fäden. Dies zu denken, auszusprechen gar, lag uns indes nicht. Dies zu denken, auszusprechen, weckt das raubtierartige in uns, weshalb wir uns an Gedanken daran wärmen, dass wir es nicht ändern können, dass auch darüber nachdenken ja nichts ändert, nichts bringt. Wir schalten das Radio ein, Trost indes spendet eine Berliner Band, die neuen Song bietet, nicht aber »es ist nicht Deine Schuld« singt. Trost auch, wenn wir uns zum Durchhalten an Fenstern versammeln und unsere Ängste in den Abendhimmel singen. Doch unser Gespür für die Dimensionen der aktuellen Lage lässt uns in uns  eine Stimme hören, die uns abermals unsere Ohnmacht, unsere Besiegbarkeit souffliert. Ausgerechnet, und nachdem wir uns die Welt zu Untertan gemacht haben, bremst den vermeintlich unaufhaltsamen Aufstieg ein Virus. Ausgerechnet.